Im Dunkel entstehen Schemen und langsam hört man etwas. Manche kommen
sprechend, manche still, manche an meiner Wange, manche in silbrigen Kontextwolken
oder Sprachnachrichten, die ihre Leerstellen herstellen. Es geht ein Wind über die
Lichtung, in der Mitte steht ein Bett. Ein Überblick ist schwer zu bekommen, mal sieht
man ein halbes Profil, mal einen Unterarm, zur Begrüßung um einen Hals geschlungen.
Jemand räuspert sich laut aber schon der erste Satz wird vom Gemurmel geschluckt —
kurz dachte man Eröffnungsrede. All unsere gegenseitigen Lektüren, mögen sie auf einen
Drink hinauslaufen oder einen Kuss, salutieren den „uralten Uhren-ähnlichen
Subsystemen in unseren Gehirnen, ausgestorbenen Viren in unserer DNA, Bakterien in
unseren Gedärmen und endosymbiotischen Mitochondrien in jeder Zelle“,
1 die das alles
heute möglich gemacht haben! Was wir über unsere Körper und unsere Körper über sich
wissen, ist hier im milchigen Licht nicht so leicht zu sagen; die Ensembles von Annahmen,
die das Wort konstituieren, shiften und kippeln. Die versammelten Kortizes, Hormone und
Gesten — wie die phones in unseren Händen, dunklen Wipfeln über den Köpfen und
Moos unter den Füßen — sind unfassbar kontingente Effekte geobiologischer Evolution,
deren Ursprung in deep time in unsere Gehirne nur als Ahnung eingeschrieben ist. Und
genauso wesentlich ist das superkonkrete, mal mehr mal weniger präsente, Wissen um
Hände auf Rücken, Lippen an Ohren, leichte Kopfschmerzen, Feinde von früher. Nicht
alles bewegt sich wie ein Selbst, von Zeit zu Zeit verschwindet was, kommt was dazu, zu
selbstverständlich fast.
Vom Rand der Lichtung zwinkern weiße Augen in den Schatten, aus der Ferne ein
Kreischen und im Boden rumorts. Die homies sprechen vom Ende und es ist der heißeste
Sommer, seitdem die meisten von uns geboren wurden. Wir tanzen; man muss im
richtigen Maß mitmachen und sich zurücknehmen, um den fragilen Reigen in swing zu
halten. Kurz wird es sketchy, ein Ast bricht krachend und jemand hält das nicht aus und
packt sein Verbundenheitsgefühl hektisch-euphorisch in Worte. Unangenehm; kniffliges
Problem: Es gibt aktuell vielleicht schon mehr als je zuvor die Notwendigkeit, sich als
wesentlich umweltlich zu verstehen. Und gleichzeitig ist die Sprache der Ökologie,
zumindest im globalen Norden, so vulgär, dass alle Tropen, in die sich diese notion ja
kleiden muss, um erscheinen zu können, aufs Genaueste gecheckt werden müssen. So
genau, dass Aussprechen vielleicht einfach noch gar keine Option ist, denkt sich die
Spickerin und gleitet verstimmt vom dancefloor ins Unterholz, um die memoire
involuntaire eines widerborstigen Textes zu entpacken, die der unpleasant Zwischenruf
ausgelöst hat.
Im Feuchten, im Dunkeln, Rascheln etc. also, nimmt sie ihr Werkzeug, die Notizapp, raus
und eine kleine Dekonstruktion vor, um sich den hier plötzlich ausgebrochenen Geist des
in corpore und seine Verschmelzungsdrohung auszutreiben. Zuletzt, wenn Menschen
darüber sprechen, wie sich ihr historisches Selbst als planetarisches Agens in die
Oberfläche der Erde eingeschrieben hat — und damit über die anstehende
Selbstauslöschung ihrer Spezies — kommt das summierende Subjekt als grammatisches
in’s Spiel. Es ist in dem Blockbusterterm
Anthropozän miteingekauft. In der Tat wird der
eigene Körper dann als ganzweltlicher gewusst, aber leider auf die falsche Weise. Wie in
dem Ausruf, der die Spickerin von der Lichtung vertrieben hat, macht sich ein
hollywoodesques „wir“ breit, von dem unklar ist was es will und überhaupt sein soll. Na,
„wir“,
Anthropos! Flüstert ein sinistrer Gymnasiallehrer aus dem Dickicht und massiert die
Schultern der Spickerin.
Wird abgeschüttelt: Das Problem „des Menschen“,
2 als dessen
Teil sich nun alle lebenden Exemplare von homo sapiens wissen sollen, ist nicht nur sein
peinliches Pathos. Es ist auch der Moment, den er sich für seinen Auftritt ausgesucht hat:
„Die Menschheit entsteht spät am Tag, [genau dann,] wenn sie sich für nicht länger
existent erklärt“,
3 schreiben Claire Colebrook und Tom Cohen. In dem Moment, in dem
Wissenschaftler*innen die Inschrift der anthropogenen Zerstörung des Planeten als
Habitat der eigenen und abertausend anderer Existenzformen lesbar gemacht haben,
erscheint er als Imperativ, das Ruder herumzureißen und „uns“ zu retten. Dabei verfügt er
über zwei verheerende Eigenschaften. Zum einen führt seine Universalisierungsrhetorik zu
einer Überblendung entscheidender Differenzen zwischen unterschiedlichen
Verkörperungen, an unterschiedlichen Orten, mit sehr unterschiedlichen
Verantwortlichkeiten: „Niemand ist unschuldig, aber manche sind schuldig.“
4 Zum
anderen geht die Verwendung seines Namens in der Regel mit der Annahme einher, die
universelle, menschliche Essenz, die er benennt, müsse gegen ihre aktuelle Fassung
verteidigt werden, die nur ihr Zerrbild sein könne — Eine Annahme für die es keinen Beleg
gibt. Es ist falsch und gefährlich, die Texte, die ansteigende Meeresspiegel,
Aussterberaten und andere Klimakatastrophen schreiben, als Hinweise auf die Ankunft
einer „wirklichen“, guten und verantwortungsvollen Menschheit zu lesen, denn es ist
keine in Sicht.
Aber
Anthropos’ message ist halt deswegen so tricky, weil sie nicht ganz nicht stimmt. In
der Tat wurden die kleinen Welten auf einem großen Planeten zu einer großen Welt auf
einem kleinen Planeten.
5 Alles ist hyperconnected; durch klimatische Elemente,
Welthandel, Umarmungen und Videochats hindurch. Es ist nur so, dass ein körperloser
Allgemeinbegriff, als transzendentale Feststellung unserer Gutheit, nicht das Selbstwissen
ist, das wir brauchen.
Den eigenen Körper ökologisch zu verstehen, kann bedeuten
untypische Allianzen einzugehen — mit Kompost, klassisch-sozialistischer Literatur oder
Pythonskripts —, sich gegen die omnipräsente Kommodifizierung der Lebenswelten und
für eine materialistische Politik einzusetzen, es kann bedeuten sich verletzlich zu machen
und verlässlich zu sorgen. Was es nicht bedeutet, ist, anzunehmen man sei Teil einer
großen Geschichte, an deren Ende eine geläuterte Menschheit —
Anthropos’ Essenz —
durch die Ruinen der Postapokalypse streift; froh es doch nochmal gepackt zu haben,
nachdem es schon richtig schlecht aussah.
6 Die Spickerin steckt die Notiz in die Tasche
und ist froh ein bisschen Raum zwischen sich und den bedrohlichen Kollektivkörper
gebracht zu haben, der noch immer das dämonische Kippbild jedes brauchbaren worldmakings
zu sein scheint. Von der Party aus ist es ruhiger und ein Egalheitsgefühl stellt
sich ein, von dem noch nicht klar ist, ob es schlecht ist, oder gut. Als die Spickerin
zurückkommt, sind schon viele gegangen, was schon immer ihre Lieblingspartyzeit
gewesen ist. True to character verbirgt sie sich im Halbdunkel und nimmt Teil, ohne selbst
gesehen zu werden. Ihr Gesicht berührt die Blätter vor sich, die von Hi-Hats und
pulvrigem Nieselregen sachte bewegt werden. Eine Ameise geht ihr Bein hinunter und
flieht aus dem Licht. Die Spickerin spürt die Anderen ganz in der Nähe, was für den
Augenblick besser ist, als dabei zu sein. Als es wenige genug sind, findet man sich auf
der Matratze in der Mitte der Lichtung. Jemand streichelt meinen Kopf, ohne dass klar ist
wer. Es gibt fünf Beine, einen Löffel und die erfreuliche Ahnung, dass Lauren nicht allein
nach Hause gegangen sein könnte.
↓
Wir gehen in das Archivlabyrinth hinunter. Nachdem wir BA126K passiert haben wird es
zu kalt für T-Shirt und die Geräusche vom Eingang sind vollständig verschwunden. Der
gewaltige Textkörper und seine Ökologie der Belüftungssysteme, Hygrometer,
schlafenden und nervösen Leser*innen reicht tief in die Erde. Es ist schummrig. Aus der
alten Musikwissenschaft dringt ein Choral: Unglaublich lange, fast stumpfe Linien beinahe
ohne melodische Bewegung, bevor, kurz vor dem Verklingen, das kleine, fiese Solo einer
Knabenstimme über dem dunklen Grund hektische, goldene Arpeggios verstreut. Von der
Ingenieurwissenschaft hallen metallene Schläge, dann wird es still. Durch die Abteilungen
der Geschichte, Geschichte der Geometrie und historischer Anthropologie beginnt die Bib
ihre Filterarbeit und im Austausch mit ihrer Architektur — von den Blicklinien auf ihre
Büsten, bis in die intrikatesten Falten ihrer Katalogsysteme — sortiert sie uns in Ichs, je
nachdem, in welchem Maß unser Aussehen, Herkunft, Begehren und Geschichte ihrem
Organisationskörper entsprechen, der die Fiktion universeller Objektivität mit
griechischem Ursprung als weißer, able-bodied, Cis-Mann ausführt. Die Zuschreibungen,
die mein Körper in den meisten Umgebungen erfährt, decken sich mit vielen des
paradigmatischen Bib-Users — in der Regel wundert es niemanden, dass ich da bin und
die Institution fügt mich bruchlos ein. Ich gehe ein bisschen auf Zehenspitzen, um ein
Buch in der obersten Reihe zu erreichen, nehme es heraus und zur Kenntnis, dass ich
kaum Hilfe brauche, damit mir das Archiv hilft. Es ist mir Verlängerung, Bestätigung und
Spiegel, während ich sehe, wie es andere einschüchtert, ihre Knie weich und ihre
Stimmen zu laut werden lässt.
Der einzige Verrat, den das Haus an mir verübt hat, war mir
zu vermitteln, seine Normalität sei nicht die artifiziellste Konstruktion ever. Als die
klagenden Töne der Religionswissenschaft verklungen sind, finde ich mich alleine wieder,
mit dem Geräusch meiner Schuhe auf dem Steinboden. Gibt es Wege, meinen Körper aus
seiner historisch gewordenen und systemisch geförderten Komplizenschaft mit dem alten
Bau zu lösen und die Feinseligkeit seiner Architektur gegenüber Körpern, die anders
aussehen, sich anders bewegen oder nicht lesen können zu beenden?
Zumindest liegt es
in der Natur des Archivs grundlegend baufällig zu sein, hinter all seiner protzigen
ancientness. Seit seiner Errichtung ist es von Eindringlingen und Deserteur*innen befallen,
die dabei helfen können, seine großmäuligen Wahrheitsbehauptungen zu unterminieren,
eine Skepsis gegen seine Taxonomien zu entwickeln und mir eine Ahnung der Gewalt zu
vermitteln, die zu seiner Errichtung notwendig war.
7
Ich nehme den zweiten Band einer kompakten aber bissigen Enzyklopädie aus dem Regal
und streichele seinen Rücken bis er schnurrt. Dann öffne ich ihn bei E und erinnere mich:
Das hier ist kein free floater, sondern selbst ein Beitrag zu einer bestimmten
Wissenskartografie der Gegenwart. Sowas hat vor allem mit style zu tun und style vor
allem mit dem, was man nicht schreibt.
Das wusste auch Diderot und verfasste einen
Eintrag über eine Pflanze, über die den kolonialistischen französischen Gelehrten seiner
Zeit quasi nichts bekannt war: „AGUAXIMA (Naturgeschichte. Botanik) Pflanze Brasiliens
und der Inseln des südlichen Amerikas. Das ist alles, was man uns von ihr sagt, und ich
möchte gerne fragen, für wen solche Beschreibungen gemacht werden. [Sie lassen] die
Unwissenden in ihrer Unwissenheit, und [lehren] die anderen nichts: Wenn diese Pflanze
also hier erwähnt wird […] ist das eine Gefälligkeit für bestimmte Leser, die lieber gar
nichts oder nur eine Dummheit in einem Lexikonartikel finden als gar keinen Artikel.“
8 Ich
fühle da eine gewisse Nähe zu Big D, die sonst nicht so da ist, weil dieser diss klarerweise
nicht in die
Encyclopédie gemusst hätte. Nicht nur stand das Wort jetzt aber für eine
Weile als in Ruhe gelassenes Geheimnis dort, sondern vermerkt auch einen permanenten
Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit des Projekts, dessen Ziel es sein sein sollte,
alle „auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln [und] das allgemeine
System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen“.
9 Es ist weniger bloß eine
distanzierte Freude darüber, dass das nicht geklappt hat, sondern schon auch eine
Zärtlichkeit gegenüber dem Gedanken, es überhaupt probieren zu wollen. Aber okay,
dieser Text hier kann kein Eintrag in eine Enzyklopädie sein. Gegenüber dem großen Titel,
unter dem er steht, schnurrt er als partikularste Perspektive zusammen. Ein betrunkenes
Wir, einige An- und Mutmaßungen und ein Ich mit Fluchtreflex Richtung Allgemeinbegriff
können kein Eintrag sein. Es sei man fände ein anderes Modell als Diderots, das den
Begriff selbst transformiert. Es sei denn, ein, um seine Situiertheit wissendes, gestimmtes,
immer mindestens halb blindes Schreiben beträte die Szene.
Kurz kommt mein Blättern aus dem Takt und bleibt dann bei dem griechischen Polysem
poikilia stehen. Nach Melissa Adler bezeichnet das Wort das Ideal der Methode, nach der
die antike Enzyklopädistin Pamphila von Epidaurus die formalen und inhaltlichen
Trennlinien zwischen Wissenseinheiten, die ihr in der Lektüre oder mündlichen
Überlieferung begegneten überwand.
10 In Form einer radikal-poietischen Praxis, die
konzeptuell mit den Techniken „des Webstuhls und der Stickerei verbunden war“,
11 zielen
ihre enzyklopädischen Collagen auf eine spezifische Aktivierung des Körpers.
Poikilia ist
die Wahrnehmung eines ambivalenten sinnlichen Reizes; es kommt in der Beschreibung
irisierender Oberflächen genau so zum Einsatz, wie in Bezug auf gelungene, mehrseitige
Bilder der Poesie. Wie die Rhetorik wird es (z.B. von Platon) als dem Erwerb stabilen
Wissens abträglich verstanden, weil es die Gefahr der Täuschung durch Affektion
impliziert. Einige Zeilen darunter glitzert das zugehörige Adjektiv, mit einer Auswahl
verschiedener bunter Steinchen besetzt, wie Aphrodites Gürtel, in dem laut Homer
buchstäblich „Liebe, Begierde, flirtation und Überzeugungskraft, die die scharfen Sinne
selbst der Weisen stiehlt“
12 eingearbeitet sind. Wie die, nur scheinbar unmittelbaren,
erotischen und persuasiven Künste in der Inschrift des Gürtels durch avancierte textile
Webkunst hervorgebracht werden, steht eine komplexe Ökonomie linguistischer Künste
hinter der Produktion von
poikilia, die, Rana Saadi Liebert zu Folge, in der Beschreibung
des „Sehens, durch das
poikilia erkannt wird, ein Modell verkörperten Wissens“
13
beschreibt, das Kognition und Emotion verschränkt. Vielleicht so: Pamphilas Schreiben
sieht nicht von der Definition ab. Aber es koppelt sie zurück, an die Vielzahl sinnlicher
Sensationen, die eine Perspektive auf ein Objekt meint. Definitionen werden Ereignisse,
die, in lässiger Verbindung, immer wieder neu, in Ornat bis Strandkleidung aus
geschmückten Ankleidezimmern treten. Dinge werden polemisch, poetisch, aphoristisch
usw. in ihrem spezifischen Glänzen untersucht, ohne als dessen Grund einen Eigennamen
zu vermuten. Wie Pindar, in seiner metapoetischen Verwendung des Terms,
14 zielt
Pamphilas Arbeit darauf, das Objekt der Lektüre als Objekt der Begierde für die Lesenden
zu erhalten und vor dem Kippen in den Ekel der Sättigung
(koros)15 zu bewahren, die eine
knappe Denotation und ihr Allgemeinheitsanspruch auslösen können.
Ein digitaler Glockenschlag und die Lichter gehen aus. An unterschiedlichen Orten des
Labyrinths, hinter kleinen, harten Tischen glotzen wir in die Dunkelheit. Vor mir steht das
Wort weiß in der Luft und ich tippe es an. Aber ich bin jetzt ziemlich ziemlich müde und es
genügt nicht, ein Wort zu lesen, denn es kann wenig tun, wenn man ihm nicht begegnet.
≈
Irgendwo in Kalifornien, bzw. einem anderen Ende der Welt. Gemischte Vergangenheiten
und ein kühler Ostwind tragen Schwefel ins Haus. Wapiti wittern. Unterschenkel jetzt eine
Weile schon receiver, in kürzer werdenden Intervallen eintreffender, schmerzhafter Signale
unter dem Knie. Die Seismographin schickt 120 Warnungen durch einen, für diese
Zwecke eingerichteten, durch Vertrauen und Glasfaser stabilisierten Verteiler und beginnt
mit ihren infrastrukturellen und mentalen Vorbeugungen. Neben dem Pochen unter dem
Knie jetzt auch in der Tasche, die anklopfenden, mitmeldenden anderen; das Netzwerk
vibrierender Körper. Die Erdbeben-Sensiblen von Kalifornien können mit Kodwo Eshun als
das „Medium Erde“
16 abhörend und selbst vermittelnd verstanden werden. Chthonische
Wesen fliehen ihre Heimat an die Oberfläche, zum Tod unter der harten Sonne. Im
gedimmten Mittagslicht schwemmen zwei Walkadaver an Land. Die Seismographin hat,
als das Geschirr zu klappern beginnt, bereits viereinhalb Stunden lang in der nun
ankommenden Zukunft verbracht.
17 Ein Schatten fährt über die Welt und akkumuliert
Seelen in statistischer Mittäter*innenschaft.
☀
Wo dann? Am Mittag, im Bett. Seit einigen Tagen wird meine Haut dünner und die
Flugmodus-Sessions länger. Ich halte mir den screen direkt über die Augen, schaue
abwechselnd Flutvideos und starre in die Sonne. Wenn ich kurz raus muss, ist schon vor
dem Betreten der Straße ausgemacht, welche Routen ich nehmen kann, um alle
denkbaren Begegnungen auszuschließen. Der Drang zur Betäubung, der mich diesen
Sommer besonders treibt, muss vermutlich zu einem gewissen Grad als
Regulationsmechanismus verstanden werden. Ich lese über Bronisław Malinowskis
Körper, von dem Michael Taussig schreibt, wie er eine aufregende Schrift von „intimen
Details“ in seinen „berüchtigt[en]“ Tagebüchern produzierte, die von seinem „Grauen vor
Hitze und Schwüle“
18 berichten, und davon, wie er diese Angst mit Arsen-Injektionen zu
bekämpfen suchte. Es ist die Liveskizze einer Ökologie situierten Erlebens: „Tatsächlich
kann man [Malinowskis] Tagebuch als Wetterkarte lesen, mit seinem Körper als
Thermometer, das Hitze und Überdruß, Hitze und Benommenheit, Hitze und Arsen
aufzeichnet“.
19 Malinowski osziliert, immer heißer werdend, durch meinen Kopf.
Vermutlich würde ein close reading meiner notes die Kombi an Befürchtungen und
lascher aber rachsüchtiger Substanzen durch die letzten Tage zeigen, die den sich
anbahnenden Moment produzieren mussten. Meine Apathie verliert ihren
melancholischen Oberton, der stabilisierend gewirkt hat, indem er metaphysische
Truismen variiert und ich schwitze los. Für eine seltsame halbe Stunde merke ich, wie mir
das Ding Richtung dort entgleitet, wo Denkkonzepte der Eindämmung kommentarlos
somatisch ausgeknipst werden und ich fühle die Federn in meinem Kissen in meinen Kopf
stechen, während mich Kopfschmerzen und Übelkeit übernehmen. Die Aspi wirkt nicht.
Es ist schon eine Weile her, dass ich mir auf diese Weise entkommen bin. Als die
Kopfschmerzen wieder weniger und die Begriffe mehr werden macht sich Traurigkeit in
meinem klebrig-feuchten Bett breit. Ich mache mir Sorgen, nicht so sehr wegen des
vergangenen Moments, sondern wegen dem, was ich dahinter noch nicht zu fassen
bekomme.
Abends winkt mich die Spickerin zurück; über dem Archiv liegt ein Park, in dem wir uns
heute treffen. In den letzten Sonnenstrahlen komme ich wieder zusammen. Sterne
poppen auf, manche fahren in die Stadt und manche breiten Decken aus, für einen
längeren Aufenthalt. „Wir können niemals scheiden, was Wetter und was Götter sind“
20
lesen wir in Kittler und unterstützen die Idee, unser kosmisches Sein stärker als solches in
den Blick zu nehmen, jetzt, wo es nicht mehr zu leugnen ist. In der geteilten Erfahrung
des unbequem-insistierenden terrestrischen Hintergrunds, fühlt der Allergiker eine Nähe
zur Seismographin. Bei ihm verhält es sich so, dass die klimatische Umwelt in close
collaboration mit all den dunklen Kräften seines organischen Seins, von denen sich
manche noch nie zu Wort gemeldet haben, das Jahr anstatt in Monate unter affekttags
aufteilt. So richtet
angstimapril seinen Oberkörper auf und bläht die Nasenlöcher. Der
Allergiker zeichnet das Bild auf eine Serviette, das für ihn das cover dieser Zeit ist, seit er
es bei National Geographic gesehen hat: Ein Kind in einem weißen Anzug, mit dem Kopf
in einer Glasblase, auf der sich die Sonne spiegelt, zwischen hohen Gräsern und
schimmernden Wolken von Pollenstaub. In die Blase führt ein Röhrchen und das Gesicht
hinter dem Glas wirkt rundlich. Die Glasmillimeter und die Schutzkleidung, die den
Kindkörper vor den Allergenen geschützt halten, stehen in Verhältnis zu der Zweiteilung,
die in der griechischen Wurzel des Wortes selbst liegt. Aber inwiefern kann die
hinterlistige Etymologie eines Begriffs über den Unfug aufklären, die dessen Referenz in
der Welt anstellt? Gar nicht, schätz ich? Mal schauen. So scheint es sich zu verhalten:
Das altgriechische Wort állos, das das Semiosenbündel „anders“, „fremd“ und
„eigenartig“ meint, kommt mit to érgon zusammen, was „das Werk“, „die Arbeit“ und „die
Reaktion“ verbindet.
21 Allergía ist die „Fremdreaktion“. Aber wer wie was ist hier Fremd?
Der Organismus reagiert auf eine Gefahr, die nicht existiert und produziert eilfertig eine
Verwundungsperformance, die unnütz und völlig real ist. Der Allergiker erklärt sich: állos
bezeichnet hier nicht das Fremde draußen, sondern das drinnen. Eine paranoide Furcht
des Leibs, die sich unterhalb der Bewusstseinsgrenze artikuliert und ein Außen zum Feind
erklärt, das er üblicherweise schon in den basalsten Lebensvollzügen seinem Inneren
integriert weiß. Das durchsichtige und undurchlässige Glas um den Kopf des Kinds, ist
Ausdruck einer Differenz, auf die sein Körper ohne Grund besteht.
Endlich wieder Geraschel und Nacht. Ich und der Allergiker fangen an zu knutschen. Die
love currency auf diesem Rasen ist heute Sprechen, als Ahnung ineinander, weil wir
wissen was die jeweilige Rede anspielt, auslässt und die kleinen Stöße, lowkey
Drohungen und großmütigen Auslassungen passen und hot gefunden werden. Das Linsen
der Spickerin ist wohlwollend geduldet, alle anderen gucken auf die Verästelungen, die
über der Glaskugel auf der Serviette entstanden sind. Das sind keine Lichtenbergfiguren,
sondern ich sag euch wie’s war, sagt der Allergiker in meinen Mund und dreht sich um.
Er erzählt von seinem letzten Exanthem, wie er’s bei gekipptem Fenster gespürt hat und noch
vor dem Anbruch des Morgens im Bad steht, den Kopf dreht, wie eine Eule und seinen Rücken betrachtet.
Von der Mitte erstreckt sich ein rotes Netz, fein verästelt, kleine Erhebungen und Täler produzierend.
An den Armen läuft es sich aus und die Haut wird heller. Die Pobacken haben ihre übliche,
bleiche Farbe, darüber wächst eine purpurne Krone in die Breite.
Eine Reihe Leuchtameisen formen am Boden ein B. Meine Linke macht sich selbstständig und schreibt etwas,
das ein Spiel, ein Alb oder eine Abkürzung ist
1 John Durham Peters: The Marvelous Clouds. Towards a Philosophy of Elemental Media.
Chicago/London, 2015. S. 266
2 Den Donna Haraway an seine griechische Wurzel νήρ zurückverfolgt, was für „Mann im
Gegensatz zu Kind, Gott und Frau“ steht. Vgl.: Donna Haraway: Staying with the Trouble. Making
Kin in the Chtulucene. Durham/London, 2016. S. 183
3 Tom Cohen & Claire Colebrook: Twilight of the Anthropocene Idols. London, 2016. S. 12
4 Monika Rinck: Kritik der Motorkraft. Auto-Moto-Fiction in 13 Episoden. Berlin, 2017. S. 19. Für
das Anthropozän gilt diese konzise Feststellung z.B. in Bezug auf seine historische Genealogie,
die sich im Nachvollzug der Geschichte der Ausschöpfung des Gros natürlicher Ressourcen und
der brutalen Ausnutzung und Vernichtung von Menschen und anderen Lebewesen in großen
Teilen Asiens, Afrikas, Südamerikas und Australiens durch die Nationen West- und Mitteleuropas,
sowie Nordamerikas, in der Verbindung des sich globalisierenden Kapitalismus und Kolonialismus
verstehen lässt. In der Gegenwart wirkt diese Geschichte weiter und es ließe sich zudem z.B. auf
die sehr unterschiedlichen Effekte des Klimawandels auf unterschiedliche Personengruppen an
unterschiedlichen Orten hinweisen (vgl. z.B. die UN-Studie Gender Dimensions of Vulnerability to
Climate Change in China hier: https://www2.unwomen.org/-/media/field%20office%20eseasia/
docs/publications/2016/12/deliverable%207-english.pdf?v=1&d=20161208T095438)
5 Titel des thematischen Bandes von Johan Rockström und Mattias Klum. Vgl. Ebj: Big World,
Small Planet: Abundance within Planetary Boundaries. Stockholm, 2015
6 https://youtu.be/WcQC1c-53uA?t=74 (Anthropos hier in einer seiner klassischen Rollen: als
kleiner Teil der Bevölkerung Manhattans)
7 So wäre auch dieser Text nicht möglich, wäre nicht die Bib in den letzten Jahren durch eine
Rückkehr verkörperter Epistemologien in ihren Kategorien und wissenstheoretischem
Selbstverständnis beunruhigt worden. Zu einem wesentlichen Teil sind Disziplinen wie Critical
Race Theory, Gender- und Disability-Studies, soziologische Habitus- und Praxistheorien, sowie
die politischen Kämpfe, aus denen sie entstanden sind, dafür verantwortlich.
8 Denis Diderot: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,
Band 1. Paris, 1751, S. 191 (Übersetzer*in unbekannt, via: https://de.wikipedia.org/wiki/Aguaxima)
9 Ders.: Philosophische Schriften. (Übersetzt von Theodor Lücke). Frankfurt a.M., 1967. S. 113
10 Melissa Adler: Eros in the library: Considering the aesthetics of knowledge organization. In: Art
Libraries Journal 44 (2). Cambridge, 2019. S. 68
11 Ebd.
12 Homer nach: Rana Saadi Liebert: Tragic Pleasure from Homer to Plato. Cambridge, 2017. S. 83
13 Rana Saadi Liebert: Tragic Pleasure from Homer to Plato. Cambridge, 2017. S. 83
14 Vgl. Ebd. S. 63 ff.
15 Ebd. S. 66
16 Kodwo Eshun: Medium Erde: Seismische Sensibilität als planetarische Prognose. (Übers.:
Anna-Sophie Springer). In: The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen. Berlin,
2014. S. 159 ff.
17 „Wie Lorraine Daston argumentiert, ist der Anbruch der Ära des Anthropozäns von dem
Zusammenbruch der Unterscheidungen zwischen menschlicher, technologischer und
geologischer Zeit gekennzeichnet.“ Ebd. S. 162
18 Michael Taussig: Sympathiezauber. Texte zur Ethnographie. (Übersetzt von Horst Brühmann)
Konstanz, 2013. S. 217
19 Ebd.
20 Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. München, 2006. S. 79
21 λλεργία. In: Allergie. Eintrag im Wiktionary. URL: https://de.wiktionary.org/wiki/
Allergie#cite_note-2
Wo nicht anders angegeben, alle Übersetzungen meine.
Der Titel stammt aus: Kathy Acker. Meine Mutter. Dämonologie. (Übersetzt von Lotte Dreimann
und Angela Rummel). Berlin, 1995. S. 205
Der Text Träumend, die Erde sei lebendig von Benedikt Kuhn ist Teil der Ausstellung Cultivation Techniques die vom 25. Februar bis zum 15. April im Schaufenster des KV Leipzig und online stattfindet